Generell drohen weiterhin keine rechtlichen Nachteile, wenn man keinen Fahrradhelm trägt

Anfang des Jahres hatte ich hier dargestellt,  ob einem rechtliche Nachteile drohen, wenn man keinen Fahrradhelm trägt.

Hierzu ist weiterhin festzuhalten, dass es in Deutschland keine (gesetzliche) Pflicht gibt, einen Fahrradhelm zu nutzen. Somit drohen also weiterhin keine unmittelbaren Sanktionen, wenn man keinen Fahrradhelm trägt.

Umstritten war, ob man sich bei einem von einem anderen verursachten Unfall ein Mitverschulden i.S.d. § 254 BGB anrechnen lassen muss, wenn man sich nicht selbst durch einen Fahrradhelm schützt. 

Hierzu habe ich einige Entscheidungen des Landgerichts Saarbrücken (Urteil vom 17. Januar 2007 – Az.: 3 O 397/05), des Oberlandesgericht Saarbrücken (Urteil vom 09. Oktober 2008 – Az.: 4 U 80/07), des Oberlandesgericht Düsseldorf (Urteil vom 18. Juni 2007 – I 1 U 278/06), des Oberlandesgericht Schleswig (Urteil vom 5. Juni 2013 – Az. 7 U 11/12), des Landgerichts Flensburg (Urteil vom 12. Januar 2012 – Az.: 4 O 265/11) sowie die Grundsatzentscheidung des Bundesgerichtshofs (Urteil vom 17. Juni 2014 – Az. VI ZR 281/13) hier dargestellt. 

Im Folgenden gehe ich auf zwei aktuelle Entscheidungen des Landgerichts Nürnberg-Fürth – Endurteil vom 13. März 2020 – 8 O 2688/19 und des Oberlandesgerichts Nürnberg – Urteil vom 20.08.2020 – 13 U 1187/20 – ein.

Was war passiert?

Die Parteien stritten um restliche Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprüche aus einem Verkehrsunfall. 

Am 25. September 2017 befuhr die Fahrradfahrerin eine Kreuzung. Der Autofahrer wollte nach rechts abbiegen. Hierbei übersah er die Fahrradfahrerin und stieß mit ihr zusammen. Die Fahrradfahrerin, welche keinen Fahrradhelm trug, stürzte zu Boden, kam mit dem Kopf auf und verletzte sich schwer. Sie befand sich für fast 2 Wochen in stationärer Behandlung und war noch bis zum 22. Oktober 2017 arbeitsunfähig erkrankt.

Außergerichtlich zahlten die Beklagten Fahrer, Halter und Versicherung bereits einen Betrag in Höhe von insgesamt 15.000,00 EUR als Schmerzensgeld an die Fahrradfahrerin.

Wesentliche Argumentation der Fahrradfahrerin:

Sie habe durch den Unfall den Geruchssinn vollständig verloren und leide immer wieder unter Schwindel, Kopfschmerzen und Konzentrationsschwierigkeiten. Außerdem habe sie aufgrund des Unfalls eine berufliche geplante Reise nicht wahrnehmen können, die für ihr berufliches Vorankommen allerdings wichtig gewesen wäre. Die Fahrradfahrerin war der Auffassung, dass ihr die Beklagten ein Schmerzensgeld von insgesamt mindestens 22.500,00 EUR schulden würden. Unter Berücksichtigung der außergerichtlichen Zahlungen sein an sie noch mindestens weitere 7.500,00 EUR zu zahlen.

Wesentliche Argumentation der Beklagten:

Das bereits gezahlte Schmerzensgeld sei vollkommen ausreichend. Es treffe nicht zu, dass die Fahrradfahrerin den Geruchssinn aufgrund des Unfalls verloren hätte. Es könne genauso gut sein, dass der Verlust des  Geruchssinns auf einen Sturz vom Pferd im Jahr 2017 zurückzuführen sei. Weil die Fahrradfahrerin keinen Sturzhelm getragen habe, müsse sie sich ein anspruchsreduzierendes Mitverschulden anrechnen lassen. 

Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth:

Die 8. Kammer des Landgerichts Nürnberg-Fürth hat der Klage vollumfänglich stattgegeben und die Beklagten mit Endurteil vom 13. März 2020 – 8 O 2688/19 – u.a. zur Zahlung von 10.000,00 EUR nebst Zinsen verurteilt.

Die 8. Kammer hielt fest, dass der Fahrradfahrerin gegen die Beklagten aus §§ 7, 11, 18 StVG in Verbindung mit §§ 115 VVG253 Absatz 2 BGB ein Schmerzensgeldanspruch in Höhe von insgesamt 25.000,00 EUR zustehe, wovon die bereits geleisteten Zahlungen abzuziehen waren.

Die Beweisaufnahme hätte ohne jeden Zweifel des Gerichts ergeben, dass die Fahrradfahrerin infolge des Unfalls ganz erheblich verletzt worden sei. Unstreitig sei, dass sie auf den Boden und den unbehelmten Kopf gestürzt sei. Die von der Fahrradfahrerin geltend gemachten Verletzungen lägen auch nach allgemeiner Lebenserfahrung bei einem unbehelmten Sturz mit dem Kopf auf den Asphalt nahe.

Außerdem war die 8. Kammer nach durchgeführter Beweisaufnahme ebenfalls hinreichend sicher davon überzeugt, dass es bei der Fahrradfahrerin infolge der unfallbedingten (Primär-)Verletzungen zu einem Verlust des Geruchssinns kam. Diesbezüglich fände das erleichterte Beweismaß des § 287 ZPO Anwendung. Hierbei könne zur Überzeugungsbildung eine hinreichende bzw. überwiegende Wahrscheinlichkeit genügen. 

Die 8. Kammer hielt nach der persönlicher Anhörung der Fahrradfahrerin und Kenntnisnahme vom schriftlichen Gutachten des gerichtlich bestellten Sachverständigen es jedenfalls für ganz überwiegend wahrscheinlich, dass die Fahrradfahrerin infolge der unfallbedingt erlittenen Gehirneinblutungen in der Folge auch einen Verlust des Geruchssinns erlitten habe.

Alle Umstände – namentlich die Schädelfraktur, der dauerhafte Verlust des Geruchssinns, das insofern auch beeinträchtigte Schmeckvermögen in den Feinausprägungen, der fast zweiwöchige Krankenhausaufenthalt und der Umstand, dass die Fahrradfahrerin aufgrund der Verletzung in jungen Jahren noch lange unter den Unfallfolgen leiden werde – rechtfertigen nach Ansicht der 8. Kammer des Landgerichts Nürnberg-Fürth in ihrer Gesamtschau ein Schmerzensgeld von 25.000,00 EUR. Somit stand der Fahrradfahrerin unter Berücksichtigung der bereits gezahlten 15.000,00 EUR ein weiterer Anspruch von 10.000,00 EUR zu. 

Der Anspruch sei nicht aufgrund eines Mitverschuldens gemäß § 9 StVG§ 254 BGB gekürzt oder ausgeschlossen. Der Schadensersatzanspruch eines Radfahrers, der im Straßenverkehr bei einem Verkehrsunfall Kopfverletzungen erlitten hat, die durch das Tragen eines Schutzhelms zwar nicht verhindert, wohl aber hätten gemildert werden können, sei in Anschluss an die Grundsatzentscheidung des Bundesgerichtshofs (Urteil vom 17. Juni 2014 – Az. VI ZR 281/13) jedenfalls bei Unfallereignissen bis zum Jahr 2011 grundsätzlich nicht wegen Mitverschuldens gemindert. Vorliegend bestehe keine Veranlassung zu einer anderen Beurteilung der Sachlage im Unfallzeitpunkt, mithin im Jahr 2017. Es gäbe nach wie vor keine allgemeine, gesetzlich normierte „Helmpflicht“ für Fahrradfahrer. Hinzu käme, dass es innerhalb der Bevölkerung stark divergierende Ansichten darüber gebe, ob und inwiefern das Tragen eines Fahrradhelms bei der Teilnahme am Straßenverkehr angezeigt oder gar notwendig sei. Ein allgemeines Verkehrsbewusstsein dahingehend, dass das Tragen eines Fahrradhelms notwendig sei, ließe sich für das Jahr 2017 schon dem Vortrag der Beklagten nicht entnehmen. Auch sei der Fahrradfahrerin kein Vorwurf einer besonderen sportlichen Fahrweise und einer damit gegebenenfalls einhergehenden Risikoerhöhung zu machen. 

Urteil des Oberlandgerichts Nürnberg:

Der 13. Senat Oberlandgericht Nürnberg bestätigte im Urteil vom 20.08.2020 – 13 U 1187/20 – im Wesentlichen die Entscheidung des Landgerichts Nürnberg-Fürth. Allerdings habe das Erstgericht das Gesamtschmerzensgeld zu hoch bemessen. Nach Auffassung des Senats stehe der Fahrradfahrerin ein Schmerzensgeldanspruch in Höhe von insgesamt 20.000 EUR zu, der in Höhe der geleisteten 15.000 EUR bereits erfüllt wurde, so dass die Fahrradfahrerin die Zahlung eines restlichen Schmerzensgeldes in Höhe von 5.000 EUR verlangen könne.

In seinem Urteil vom 20.08.2020 – 13 U 1187/20 – setzte sich der 13. Senat ausführlich mit der Rechtsdogmatik und den für die Bemessung maßgebenden Umstände des Schmerzensgeldes auseinander und hat sich hierzu auch mit Entscheidungen weiterer Oberlandgerichte befasst.

Zutreffend habe das Landgericht die Überzeugung gebildet, dass der Verlust des Geruchssinns mit der erforderlichen überwiegenden Wahrscheinlichkeit auf den Sturz vom Fahrrad zurückzuführen sei.

Der Senat teilte auch die Rechtsauffassung des Erstgerichts, wonach nicht zulasten der Fahrradfahrerin im Sinne eines Mitverschuldens berücksichtigt werden könne, dass diese bei der zum Unfall führenden Fahrradfahrt keinen Schutzhelm getragen hat. Hierbei stellte der Senat auch auf die Grundsatzentscheidung des Bundesgerichtshofs (Urteil vom 17. Juni 2014 – Az. VI ZR 281/13) ab und hob hervor, dass sich allein mit einem Verletzungsrisiko und der Kenntnis davon ein Mitverschulden nicht begründen ließe. Andernfalls müsse bei jeder Tätigkeit mit ähnlichem oder höheren Kopfverletzungsrisiko ein Mitverschulden bejaht werden. Auch der heutige Erkenntnisstand bezüglich der Möglichkeiten, dem Verletzungsrisiko durch Schutzmaßnahmen zu begegnen, rechtfertige noch nicht den Schluss, dass ein Radfahrer sich nur dann verkehrsgerecht verhalten würde, wenn er einen Helm trägt. Der Senat teilte außerdem die Auffassung des Erstgerichts, wonach sich ein allgemeines Verkehrsbewusstsein dahingehend, dass das Tragen eines Fahrradhelms notwendig sei, für das Jahr 2017 aber schon dem Vortrag der Beklagten nicht entnehmen ließe. Außerdem sei auch gerichtsbekannt, dass ein derartiges allgemeines Verkehrsbewusstsein nach wie vor nicht bestehe. Ein Mitglied des Senats führe im Nürnberger Stadtgebiet regelmäßig eigene Verkehrszählungen zu dieser Frage durch. Dessen Zählungen entsprächen im Wesentlichen denjenigen aus amtlichen Quellen. Es sei zwar in den letzten zehn Jahren eine leichte Steigerung der im hier interessierenden Alltagsradverkehr helmtragenden Radfahrer zu beobachten. Die bei weitem überwiegende Mehrheit (rund 80%) der erwachsenen Bevölkerung nutze aber jedenfalls nach wie vor keinen Helm beim Fahrradfahren, insbesondere nicht innerorts im Alltagsradverkehr. Eine allgemeine Verkehrsauffassung des Inhalts, dass Radfahren eine Tätigkeit darstelle, die generell derart gefährlich sei, dass sich nur derjenige verkehrsgerecht verhalten würde, der einen Helm trage, bestehe nach wie vor nicht. Etwas anderes möge für bestimmte Formen des sogenannten sportlichen Radfahrens gelten, die mit erheblich gesteigertem (Kopf-)Verletzungsrisiko verbunden sind. Derartiges sei aber nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens.

Es bleibt dabei, dass der Grundsatzentscheidung des Bundesgerichtshofs und den hier dargestellten Entscheidungen grundsätzlich zuzustimmen ist. Gesetzestreues Verhalten sollte nach wie vor nicht durch die Anrechnung eines Mitverschuldens „bestraft“ werden. 

Ausblick:

Die im ursprünglichen blog dargestellten Kampagnen des BMVI und des DVR haben wohl (noch) nicht dazu geführt, dass der Großteil der Fahrradfahrer einen Fahrradhelm nutzt. Somit ist derzeit (noch) nicht von einem allgemeinen Verkehrsbewusstsein, wonach das Tragen eines Fahrradhelms zum eigenen Schutz erforderlich und zumutbar ist, auszugehen. Ein Mitverschulden bei einem unverschuldeten Unfall ohne das Tragen eines Fahrradhelms wird somit aktuell regelmäßig nicht anzurechnen sein. Dies kann sich jedoch bei einer Veränderung des entsprechenden allgemeinen Verkehrsbewusstsein zukünftig ändern.

Fazit:

Die beiden Entscheidungen zeigen, dass die Höhe des Schmerzensgeldes von den Gerichten sehr unterschiedlich bewertet werden. Sollten Sie Schäden aufgrund eines Verkehrsunfalls erlitten haben, ist es ratsam, sich zeitnah von erfahrenen Rechtsanwälten beraten und erforderlichenfalls vertreten zu lassen.

Unabhängig von der weiterhin grundsätzlich für Fahrradfahrer positiven Rechtsprechung sollten diese beachten, dass das Tragen eines Fahrradhelms im eigenen Interesse erfolgen sollte. Ein Schadensersatzanspruch kann immer nur versuchen zu entschädigen, jedoch nicht die Gesundheit wiederherstellen. Dem Präsident des DVR Prof. Dr. Walter Eichendorf ist nach wie vor zuzustimmen „Es gibt nichts Wichtigeres, als die Gesundheit und das eigene Leben zu schützen“. 

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