Bundesverfassungsgericht entscheidet erneut zugunsten der Versammlungsfreiheit

Zur Zeit der Corona-Pandemie gibt es weiterhin kein generelles Demonstrationsverbot. In einem Eilverfahren hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts die Stadt Stuttgart durch Beschluss vom 17. April 2020 – 1  BvQ 37/20 – dazu verpflichtet, über die Zulässigkeit einer angemeldeten Versammlung unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung der Kammer zu entscheiden. Falls die Stadt Stuttgart keine Entscheidung getroffen hätte, wäre der Antragsteller berechtigt gewesen, die von ihm angemeldete Versammlung wie geplant durchzuführen. Laut www.sueddeutsche.de nahmen rund 50 Menschen friedlich an der Demonstration teil, welche unter Auflagen der Stadt Stuttgart nunmehr stattfinden durfte. Wie das Bundesverfassungsgericht erstmals zur Zeit der Corona-Pandemie zugunsten der Versammlungsfreiheit entschieden hat erfahren Sie hier.

Was war passiert?

Ursprünglich sollten zwei Versammlungen unter dem Motto „Wir bestehen auf die ersten 20 Artikel der Verfassung. Wir bestehen auf Beendigung des Notstands-Regimes“ stattfinden. Hierbei sollten alle Teilnehmer „vorab über die notwendigen Hygieneregeln informiert (insbesondere Abstand von 2 m)“ werden. Anlässlich einer früheren Versammlungsanmeldung hatte ein Mitarbeiter der Stadt Stuttgart telefonisch mitgeteilt, dass dort derzeit über Versammlungen nicht entschieden werde, weil diese verboten seien. Daraufhin wandte sich der Bevollmächtigte des Anmelders telefonisch an den Mitarbeiter, um einen entsprechenden Bescheid zu erhalten. Dem Bevollmächtigten wurde geantwortet, dass ein Ablehnungsbescheid nicht ergehen werde, weil sich das Verbot von Versammlungen aus der Corona-Verordnung der Landesregierung ergebe. Dies überzeugte den Antragsteller und seinen Bevollmächtigten nicht, weshalb bei dem Verwaltungsgericht Stuttgart per einstweilige Anordnung beantragt wurde die Stadt Stuttgart dazu zu verpflichten, die angemeldeten Versammlungen zu genehmigen. Das Verwaltungsgericht lehnte den Antrag jedoch ab. Auch die hiergegen gerichtete Beschwerde wies der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg durch Beschluss zurück.

Rechtliche Argumentation des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg

Der Verwaltungsgerichtshof begründete seine Entscheidung u.a. damit, dass der Antragsteller einen wichtigen Grund im Sinne des § 3 Abs. 6 der baden-württembergische Verordnung der Landesregierung über infektionsschützende Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus SARS-Cov-2 (kurz CoronaVO) nicht glaubhaft gemacht hätte. § 3 Abs. 6 CoronaVO eröffnet den zuständigen Behörden die Möglichkeit aus wichtigem Grund unter Auflagen zum Schutz vor Infektionen Ausnahmen vom Verbot nach den Absätzen 1 und 2 zulassen. Damit der Antragsteller einen wichtigen Grund im Sinne des § 3 Abs. 6 CoronaVO gehabt hätte, wäre es nach Ansicht des Verwaltungsgerichtshofes erforderlich gewesen, dass die Behörde dazu verpflichtet gewesen wäre, eine Ausnahme zuzulassen. 

Ermessensreduzierung/Ermessensreduktion auf Null

Der in § 3 Abs. 6 CoronaVO eröffnete Entscheidungsspielraum – Juristen nennen dies Ermessen – hätte also so stark eingeschränkt werden müssen, dass nur eine zulässige Ausübung des Ermessen in Form der Zulassung der  Ausnahme hätte erfolgen dürfen. Juristen nennen diese extreme Einschränkung des Entscheidungsspielraums  Ermessensreduzierung/Ermessensreduktion auf Null, weil nur noch eine Entscheidung richtig respektive rechtsfehlerfrei ist. 

Eine Ermessensreduzierung auf Null sah der Verwaltungsgerichtshof als nicht gegeben an, weil der Schutzes von Leib und Leben von Menschen aufgrund des derzeit hohen Infektionsrisikos einen legitimen Zweck darstelle. Die Versagung der Ausnahmegenehmigung sei hierzu ferner geeignet und auch erforderlich gewesen. Sie stelle sich ferner nicht als unverhältnismäßig dar. Überdies kritisierte der Verwaltungsgerichtshof, dass der Antragsteller keinerlei eigene Überlegungen zur weiteren Minimierung der genannten Risiken angestellt habe. Des Weiteren sei es bei lebensnaher Betrachtung nicht auszuschließen, dass bei Durchführung der Versammlung zusätzliche Infektionsrisiken geschaffen würden. Im Ergebnis stelle die Versagung der Ausnahmegenehmigung sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt trotz des darin liegenden außerordentlich schwerwiegenden Eingriffs in das Grundrecht aus Art. 8 GG noch als verhältnismäßig im engeren Sinne dar.

Rechtliche Argumentation des Antragstellers

Der Antragssteller trat dem entgegen. Er berief sich im Wesentlichen darauf, dass durch Zeitablauf ein, in einem Hauptsacheverfahren nicht mehr korrigierbarer endgültiger Rechtsverlust drohe. Eine Verfassungsbeschwerde wäre offensichtlich begründet. Es fehle bereits an einer Rechtsgrundlage für ein Versammlungsverbot. Die Stadt Stuttgart habe ihr Ermessen nicht ausgeübt. Außerdem sei ein Versammlungsverbot unverhältnismäßig, weil durch Auflagen dem Ziel des Infektionsschutzes in hinreichendem Maße Rechnung getragen werden könne. 

Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes

Erneut hat das Bundesverfassungsgericht zugunsten der Versammlungsfreiheit entschieden.  Auch im vorliegenden Eilrechtsschutzverfahren prüfte das Bundesverfassungsgericht die gegenwärtigem Erfolgsaussichten einer Verfassungsbeschwerde sowie, ob ein Abwarten bis zum Abschluss des Verfassungsbeschwerdeverfahrens oder des Hauptsacheverfahrens den Versammlungszweck mit hoher Wahrscheinlichkeit vereiteln würde. Im Ergebnis hat es dies bejaht und deshalb eine einstweilige Anordnung erlassen.

Eine Verfassungsbeschwerde wäre nach gegenwärtigem Stand offensichtlich begründet gewesen, weil das Vorgehen der Stadt Stuttgart den Antragsteller in seinem Grundrecht auf Versammlungsfreiheit aus Art. 8 GG verletzte. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass Eingriffe in die Versammlungsfreiheit nur zum Schutz gleichgewichtiger anderer Rechtsgüter unter strikter Wahrung der Verhältnismäßigkeit zulässig sind. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeit sind Ermessenserwägungen der Behörde zu überprüfen.

Es war jedoch schon nicht erkennbar, dass die Behörde von dem ihr in § 3 Abs. 6 CoronaVO eingeräumten Ermessen im Lichte der Versammlungsfreiheit Gebrauch gemacht hätte. Es spräche vieles dafür, dass die Behörde davon ausgegangen ist, dass ihr bei der Auslegung der Verordnung kein Ermessen zustehen würde. Hierfür verwies das Bundesverfassungsgericht auf die Telefonate, in denen von einem generellen Versammlungsverbot ausgegangen worden sei. 

Eine deutliche Absage erteilte das Bundesverfassungsgericht der Behörde in Bezug auf die Erwägungen zu einer Zulassung der Versammlung unter Auflagen zum Schutz vor Infektionen. Diese sein bereits deswegen unerheblich, weil sich ein Ermessensausfall hierdurch nicht heilen ließe. Abgesehen davon erweisen sich die von der Behörde angestellten Erwägungen im Lichte von Art. 8 GG als nicht tragfähig. Es handele sich um nur pauschale Erwägungen, die jeder Versammlung entgegengehalten werden könnten. Dies würden dem Individualgrundrecht aus Art. 8 GG, welches eine Einzelfallbetrachtung gebiete, nicht gerecht werden. 

Außerdem habe die Behörde keinerlei eigene Überlegungen zur weiteren Minimierung der Infektionsrisiken angestellt. Sie hätte sich jedoch aufgrund der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zunächst um eine kooperative, einvernehmliche Lösung mit dem Versammlungsveranstalter bemühen müssen und folglich nicht die Verantwortung hierfür allein bei dem Antragsteller belassen dürfen. Stattdessen stellt die Behörde in ihrer Stellungnahme lediglich pauschal fest,  dass es ihr nicht möglich sei, Auflagen festzusetzen, die der aktuellen Pandemielage gerecht werden würden. Damit schloss sie jedoch jede Einzelfallbetrachtung von vornherein aus, was ebenfalls eine offensichtliche Verletzung der Versammlungsfreiheit wäre.

Das Bundesverfassungsgericht verwies darauf, dass sie nicht ignorieren würde, dass gerade in Stuttgart die Infektionszahlen in den vergangenen Wochen stark angestiegen sein. Dies führe jedoch nicht dazu, dass die Behörde nicht (mehr) um eine kooperative, einvernehmliche Lösung mit dem Versammlungsveranstalter bemühen müsse. 

Bereits die Verkennung des Ermessensspielraumes führte dazu, dass die Stadt Stuttgart das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit nicht beachtet hat. Auch habe die Stadt nicht die konkreten Umstände des Einzelfall berücksichtigt. Beides stellt eine offensichtliche Verletzung der Versammlungsfreiheit dar.

Dem Antragsteller drohe auch ein nicht mehr korrigierbarer gewichtiger Rechtsverlust aufgrund des Verhaltens der Behörde. Der Zweck der Versammlung, die sich gerade auch gegen die Beschränkungen und Verbote der CoronaVOrichten sollten, würde mit hoher Wahrscheinlichkeit vereitelt werden, sofern die Behörde bei ihrem Verhalten bleibe und ein Hauptsacheverfahren durchgeführt werden müsse.

Verfahrenskosten

Schließlich stellte das Bundesverfassungsgericht fest, dass das Land Baden-Württemberg und die Stadt Stuttgart dem Antragsteller die notwendigen Auslagen jeweils zur Hälfte zu erstatten haben.

Fazit

Der dargestellte Fall zeigt anschaulich, dass die Grundrechte weiterhin gelten und somit auch von allen staatlichen Stellen nach wie vor zu beachten und einzuhalten sind. Sollten Sie davon ausgehen, dass bei staatlichen Maßnahmen Ihnen gegenüber Ihre Grundrechte keine oder nicht genügend Beachtung gefunden haben, empfiehlt es sich, sich von einem spezialisierten  Anwalt beraten und erforderlichenfalls vertreten zu lassen.

Zu den Aufgaben des Bundesverfassungsgerichtes, dem Eilrechtsschutzverfahren des § 32 BVerfGG und der Versammlungsfreiheit finden sie hier weitgehende Ausführungen. 

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