Die Grundrechte gelten weiterhin und sind vom Staat nach wie vor zu beachten

Auch zur Zeit der Corona-Pandemie gibt es kein generelles Demonstrationsverbot. In einem Eilverfahren hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts eine Demonstrations-Verbotsverfügung der Stadt Gießen durch Beschluss vom 15. April 2020 – 1 BvR 828/20 – aufgehoben. Allerdings war die Stadt Gießen nicht daran gehindert die Demonstration von bestimmten Auflagen abhängig zu machen oder, falls sich diese als unzureichend darstellen sollten, zu verbieten. Laut Angaben von www.faz.net fand am heutigen Freitag – 17. April 2020 – die Demonstration statt, an der zwischen 40 und 50 Menschen teilgenommen haben sollen. Die Teilnehmer hätten sich dabei an die Auflagen gehalten.

Was war passiert?

Es wurden bei der Stadt Gießen mehrere Versammlungen unter dem Motto „Gesundheit stärken statt Grundrechte schwächen – Schutz vor Viren, nicht vor Menschen“ angemeldet. Bei den geplanten Versammlungen sollten Infektionsschutzmaßnahmen u.a. durch Abstandsmarkierungen, Hinweisschilder und Ordner gewährleistet werden. Gegenüber der Behörde wurde u.a. geltend gemacht, dass man für Empfehlungen zu weitergehenden Infektionsschutzmaßnahmen dankbar wäre und entsprechende Auflagen befolgen werde. Nach einem Kooperationsgespräch wurden die angemeldeten Versammlungen von der Stadt Gießen dennoch verboten. 

Rechtliche Argumentation der Behörde

Per Bescheid verfügte die Stadt Gießen unter Anordnung der sofortigen Vollziehung ein auf § 15 Absatz 1 VersG gestütztes Verbot der Versammlungen. Die öffentliche Sicherheit und Ordnung seien bei der Durchführung der Versammlungen unmittelbar gefährdet. Die Versammlungen würden gegen Verordnungen der Hessischen Landesregierung zur Bekämpfung des Corona-Virus verstoßen. Hiernach sei jede Zusammenkunft von mehr als zwei Personen, die nicht dem gleichen Hausstand angehören, grundsätzlich unzulässig.

Entscheidungen des Verwaltungsgerichts Gießen und des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs

Der Beschwerdeführer erhob daraufhin Widerspruch und leitete ein gerichtliches Eilverfahren ein. Weil sowohl das Verwaltungsgericht Gießen, als auch der Hessische Verwaltungsgerichtshof das Versammlungsverbot der Stadt Gießen im Ergebnis bestätigten, wandte sich der Beschwerdeführer mit einer Verfassungsbeschwerde verbunden mit einem Eilantrag gegen die Entscheidungen.

Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes

Erstmals zur Zeit der Corona-Pandemie hat das Bundesverfassungsgericht zugunsten der Versammlungsfreiheit entschieden. Das Bundesverfassungsgericht hat klargestellt, dass die Versammlungsfreiheit auch während der Corona-Pandemie gilt und auch weiterhin, unter Beachtung von Vorkehrungen für den Infektionsschutz, grundsätzlich ausgeübt werden kann.

Aufgaben des Bundesverfassungsgerichtes

Das Bundesverfassungsgericht ist das ranghöchste Gericht Deutschlands. Es gilt als Hüter der Verfassung und wacht daher über die Einhaltung des Grundgesetzes. An seine Rechtsprechung sind grundsätzlich alle übrigen Staatsorgane gebunden.

Spezielles Eilrechtsschutzverfahren

In § 32 BVerfGG ist ein spezielles Eilrechtsschutzverfahren geregelt. Zu Eilrechtsschutzverfahren im allgemeinen finden Sie hier weitergehende Ausführungen. Gemäß § 32 Absatz 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. 

Hierbei prüft das Bundesverfassungsgericht im Kontext der Versammlungsfreiheit regelmäßig, ob eine offensichtliche Verletzung der Versammlungsfreiheit vorliegt und ob der Versammlungszweck mit hoher Wahrscheinlichkeit vereitelt würde, sofern die Versammlung nicht wie beabsichtigt durchgeführt werden könnte.

Versammlungsfreiheit

Gemäß Art. 8 Abs. 1 GG haben alle Deutschen das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln. Dieses Recht kann gemäß Art. 8 Abs. 2 GG durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden. 

Die Verbotsverfügung der Stadt Gießen stellte für das Bundesverfassungsgericht einen offensichtlichen Verstoß gegen die Versammlungsfreiheit dar. Dies weil die Stadt von einem generellen Verbot aller Versammlungen unter freiem Himmel aufgrund der Verordnungen der Hessischen Landesregierung zur Bekämpfung des Corona-Virus zu Unrecht ausgegangen war. Ein solches generelles Verbot aller Versammlungen sei aber nicht in den Verordnungen der Hessischen Landesregierung zur Bekämpfung des Corona-Virus geregelt. Vielmehr werde den Behörden ein entsprechender Entscheidungs-/Ermessensspielraum eingeräumt, bei dem auch die durch Art. 8 GG grundrechtlich geschützte Versammlungsfreiheit zu beachten sei.

Bereits die Verkennung des Entscheidungs-/Ermessensspielraumes führte dazu, dass die Stadt Gießen das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit nicht beachtet hat. Diese Nichtbeachtung stellte eine offensichtliche Verletzung der Versammlungsfreiheit dar. Außerdem habe die Stadt nicht die konkreten Umstände des Einzelfall berücksichtigt, was ebenfalls eine offensichtliche Verletzung der Versammlungsfreiheit wäre.

Somit war es im Streitfall dringend geboten durch einstweilige Anordnung vorläufig zur Abwehr schwerer Nachteile zu regeln, dass die Stadt Gießen die Zulässigkeit der Versammlungen neu, unter Beachtung des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit anhand der konkreten Umstände des Einzelfall, zu beurteilen hat.

Aufgrund der Eilbedürftigkeit und weil es auch nicht entscheidungserheblich war, hat sich das Bundesverfassungsgericht nicht zu verfassungsrechtlichen Grundsatzfragen des Gesetzes zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (IfSG) geäußert. Die Verfassungskonformität gewisser Normen des IfSG wird derzeit von einigen Juristen in Frage gestellt.

Das Bundesverfassungsgericht hielt allerdings auch fest, dass die Stadt Gießen nicht daran gehindert ist, die Demonstration von bestimmten Auflagen abhängig zu machen oder, falls sich diese als unzureichend darstellen sollten, zu verbieten. Laut Angaben von www.faz.net fand am heutigen Freitag die Demonstration jedoch – wohl unter weiteren Auflagen der Stadt Gießen –  in zulässiger Art und Weise statt.  

Prozesskostenhilfe

Schließlich wurden dem Beschwerdeführer für das Verfahren über die einstweilige Anordnung Prozesskostenhilfe vom Bundesverfassungsgericht bewilligt, weil die erforderlichen Voraussetzungen vorlagen. Zur Prozesskostenhilfe wurde bereits hier ausführlicher geschrieben.

Fazit

Der erläuterte Fall zeigt anschaulich, dass die Grundrechte weiterhin gelten und somit auch von allen staatlichen Stellen nach wie vor zu beachten und einzuhalten sind. Sollten Sie davon ausgehen, dass bei staatlichen Maßnahmen Ihnen gegenüber Ihre Grundrechte keine oder nicht genügend Beachtung gefunden haben, empfiehlt es sich, sich von einem erfahrenen Anwalt beraten und erforderlichenfalls vertreten zu lassen.

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